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 Genève 
Beat Geschrieben von Beat Rubischon (Link) am Freitag, 25. Januar 2013, 11:44
aus dem *abendspaziergang* dept.

Wenn es eine richtige Stadt gibt in der Schweiz, dann ist es Genf. Genaugenommen gibt es Genf ja gar nicht, die Einheimischen leben in Aux Vives, Cornavin, Plainpalais oder Cité - richtige Quartiere, wie sie in einem Paris, London oder New York zu finden sind. Jeder Genfer versteht mich, wenn ich nach Cornavin fahre, er würde nie auf die Idee kommen, dem Schnäfe zu sagen.

Die Stadt war schon um die vorletzte Jahrhundertwende gross. Das Belle Empoque Gefühl steckt in der Stadt wie die Bise in meinen Knochen. Dass Genf Ende des 19. Jahrhunderts schon gross war wurde Sissi zum Verhängnis - gerade eben bin ich an einer kleinen Tafel vorbeigekommen, die von ihrem Tod im September 1898 berichtet. Immerhin ein schöner Platz zum Sterben, Blick auf den See, den Jet d'eau, die Stadt mit der Ponte du Mont-Blanc zur rechten und den endlosen Lac Léman zur linken. Ein paar Meter weiter steht eine grosse Bronzefigur mit wunderschönem Gesicht, die Stufen unter der Skulptur berichten von der Kaiserin Oesterreichs und der Königin Ungarns. Ich gehe Richtung Stadt.

Vorbei am Jetée des Paquis, einem öffentlichen Bad mit Strand, an dem ich vor knapp zwei Jahren Bilder von brütenden Schwänen machen durfte. Auch in jenem Mai Bise, die Winterkälte noch tief im Boden. Neben mir stand ein Mädchen in Bikinioberteil und Sarong, sichtlich kälteresistent, die sich sehr geschickt die Unterhose gegen ein Bikinihöschen tauschte und kurzerhand ins eisige Wasser stieg. Die Genfer haben sich letztes Jahr einmal mehr für ihr Bad gewehrt, es bleibt offen und kostenlos für alle.

Etwas weiter in die Stadt hinein, entlang der immer reissenden Rhône, über die Haltestelle Bel-Air zur Haltestelle Stand. Ich tauche unter die Brücke, möchte ein anderes Bronzemädchen besuchen, das ich gestern aus dem Tram gesehen habe. Schwarze Männer sprechen mich freundlich an, mich überkommt das dumpfe Gefühl im Schwulenstrich gelandet zu sein. Bin froh, meine Kamera und mein Notebook nicht dabei zu haben und mich genauso freundlich so schnell wie möglich aus dem Staub machen zu können.

Genf ist eine Stadt, Frankreich ist nahe - entsprechend ist das typisch schweizerische Sicherheitsgefühl auch nicht wirklich da. Es ist das mit Abstand kriminellste Pflaster auf Schweizer Boden. Noch einen Schluck übler als Chiasso, welches am Rand zum armen Italien wie ein grosser Magnet für die "Touristen" aus Italien wirkt. Ein Kunde von mir, der in Genf arbeitet, hat permanent zwei Portemonnaies mit dabei: Eines zum Klauenlassen, ein Zweites mit dem richtigen Geld.

Strukturelle Probleme plagen die Stadt, die sich selbst Cité et République de Genève nennt. Mehr als 25% der Arbeitenden finden keinen Wohnraum in der Stadt und pendeln täglich über die Grenze. Der Privatverkehr kollabiert zwei mal täglich, die Linie von Anmasse nach Eaux vive wird gerade erst zur S-Bahn ausgebaut. Die kantonale staatliche Pensionskasse hat eine riesige Unterdeckung, noch dieses Jahr soll eine Abstimmung stattfinden, ob zukünftig die Renten der Kantonsangestellten massiv gekürzt werden sollen. Bern ist weit weg, Genf ist weder Schweiz noch Frankreich und muss - bzw. will - seine Probleme selbst in den Griff bekommen.

Ich biege ab nach Süden, mein Weg führt mich Richtung Plainpalais. Die Gruppe Rumänen, die mich schon im Sommer im Tram angebettelt haben, sitzen neben der Nymphe de la fontaine. Einmal mehr bin ich froh, keine teuren Dinge mit mir herumzuschleppen. Keine andere Stadt ist von der Personenfreizügigkeit aus dem Schengener Abkommen so betroffen wie Genf. Ich frage mich allerdings, wo die Leute derzeit leben - die Brücken über die Arve, die im Herbst deren Zuhause waren, sind nicht besonders wohnlich zur Zeit. Immerhin, die Säuglinge, die sie im Sommer mit sich rumtrugen, sind aktuell nicht dabei.

Die Arve hat kürzlich eine neue Brücke bekommen. Herr Rolex hatte eine Stiftung hinterlassen, die das Projekt finanziert hat. Zuvor stand ein Provisorium da, eine bessere Pontonbrücke, von einigen Pionieren der Armee, die dahinter eine Kaserne betrieb. Jetzt ist es eine Stahlkonstruktion, ein Gitterrohr, in dem Autos, Velos und Fussgänger trockenen Fusses auf die andere Seite kommen. Das Kasernengelände ist zurück an die Stadt, letztes Jahr ein grosser Kampf zwischen der Uni, die im Falle einer Annahme kostenlos ein Haus von Rolex bekommen hätte und denjenigen, die auf dem Platz lieber Raum für Wohnungen schaffen wollen. Die Uni (oder Rolex?) hat verloren, für die Wohnungen ist meines Wissens kein Geld da. Die schöne Brücke wird noch eine Weile ins Niemandsland führen. Eindrücklich ist sie trotzdem.

Wieder nach Norden, leicht östlich. Es geht hoch in die Altstadt. St. Pierre thront über der Stadt, in ihm soll Calvin seine Reformation begonnen haben. Calvinistische Lebensweise gilt bei vielen meiner Bekannten als der Inbegriff von unterdrückter Lust zugunsten braver Arbeit. Gleichzeitig ist Genf die Stadt mit den chicsten Frauen. Nirgendwo sonst gibt es so viele Jupes, Kleider, tiefe Ausschnitte, Strümpfe und schöne Schuhe wie hier. Frankreich ist nahe, die Frauen tragen diese Dinge mit einer Selbstverständlichkeit im Alltag, die in einem Zürich bestenfalls einer Jeans und Sneakers zugestanden wird. Ob die Genferinnen auch mehr Sex haben als die Zürcherinnen? Ich weiss es nicht und ich wage es bei den im typischen Schlabberlook herumlaufenden Jungs auch stark bezweifeln. So etwas will frau doch nicht vernaschen. Trotzdem vermehren sich die Genfer fleissig, dicke Bäuche und Kinderwagen finden sich an allen Ecken und Enden.

Gleich neben St. Pierre ist das Petershöfli, eine schweizerdeutsche Langzeitunterkunft für junge Mädchen. Ich hatte unlängst das Vergnügen, eine Nacht in deren Männerzimmer zu verbringen. Eine Nacht im "Basar von Bombay", zwei Inder bekochten uns alle mit einem feinen Menu, der Franzose sponserte eine Flasche Wein. Am Morgen Frühstück mit einer Horde jüngerer und älterer Frauen. Der Morgen hat mich davon überzeugt, dass es solche Einrichtungen braucht, in denen junge Frauen lernen können, sich selbst zu sein und sich wertzuschätzen. Leider braucht es das, muss ich da hinzufügen. Komische Welt, in der wir leben.

Wieder runter, zur Einkaufsmeile. Wie die Bahnhofstrasse in Zürich, nur mit viel intensiveren Kontrasten. Doch bevor ich mich in das Getümmel sichtlich wohlhabender Genferinnen der oberen 10'000 in Nerz und Swarowskiglitzersteinstrümpfen über La Boutin Pumps und suspekten Gestalten in ausgebeulten Hosen und tiefgezogenen Mützen stürze, werfe ich immer einen Blick in das Schaufenster des hiesigen Antiquitätenhändlers. Er hat sich auf technisches Gerät spezialisiert, nebst alten Experimentierkästen, Thermometern und Ferngläsern stehen auch immer wunderschön erhaltene Kameras im Schaufenster. Einige hatte ich in meiner langen Karriere schon in den Händen, alte Leicas, Contaflex, Zeiss-Ikon Klappkameras, andere kenne ich nur aus den Büchern wie die ursprüngliche Kodak.

Zurück zur Rhône, Schwenker nach links. Vorbei an hippen Bars, in denen in den Sommermonaten laute Musik vom live DJ dröhnt und die Besucher an grossen Gläsern mit interessantem Inhalt nippen. Vorbei am Platz vor den Ponts de l'ile, auf dem öfters Inline Skater ihre Runden drehen und ich mir schon mehrfach überlegt habe, dem einen oder anderen Fotografen da gleichzutun. Ueber die Brücke, hoch zum Bahnhof. Vorbei am Manor, der im Dezember die ganzen 100m Schaufensterfläche mit Unterwäsche für den Silvester gefüllt hat. Ich bin überzeugt davon, dass er die Dinger auf verkauft hat und sich unter den diversen Jupes und Kleidern auf meinem Weg das eine oder andere Kleinod verbirgt.

Der Bahnhof ist eine grosse Baustelle, schlimmer als Zürich. Er wird vergrössert, um der zukünftigen S-Bahn Platz zu bieten. Die eine Hälfte des Gebäudes wurde komplett abgerissen, nur die Fassade blieb stehen. Die wenigen Male, in denen die Sonne durch die leeren Fenster schien, fand ich leider keine Zeit für ein Bild, oder hatte Leute um mich, bei denen ich meine Kamera nicht zeigen wollte. Auch der Bahnhof ein grosser Magnet für allerlei sonderliche Gestalten. Der Penner, der sich im Hauseingang eingerichtet hat, die vielen Touris aus Osteuropa, die ihr Interrail mit Gitarre und Gesang verdienen.

Es lohnt sich finanziell, den Bahnhof ein wenig zu kennen: Zwischen zweifrankendreissig und fünffrankenachzig kostet ein Becher Cappucino, je nach Laden den man besucht. Und im Untergeschoss der wohl letzte Minit One Photo, ich habe schon lange das Projekt eine Chemiekamera mit nach Genf zu nehmen und ihm einen Film zu bringen.

Ich gehe weiter nach Norden, zu meiner Unterkunft. Das Quartier stammt sichtlich aus den 20ern, ist mittlerweile etwas heruntergekommen, auch die wenigen Neubauten aus den 60ern haben schon bessere Tage gesehen. Trotz allem, das Quartier lebt, ist durchzogen von einer bunten Mischung von Läden, Wohnungen und Büros. Die Konzentration im Detailhandel, die Zürich in den letzten 40 Jahren erlebte, scheint in Genf spurlos geblieben zu sein. Die Genfer kaufen im Tante-Emma bzw. Onkel-itsch Laden ein und lassen den Coop oder Migros links liegen.

Für einmal habe ich ein Bett in der Jugi ergattert. Sie ist grossartig gelegen und wenn nicht - wie gerade jetzt - im Umbau, auch ein wohnlicher Ort. Normalerweise ist sie von Studis langfristig belegt und ist Monate im Voraus ausgebucht. Nicht mehr lange und ich krieche unter die Decke, mit einem guten Gefühl von einem langen Spaziergang in den Knochen. Ich liebe diese Stadt und könnte mir vorstellen hier zu leben - wenn nur die Sprache nicht wäre...

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