Fahrplanwechsel
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Geschrieben von Beat Rubischon (Link) am
Mittwoch, 5. Dezember 2012, 08:18
aus dem *unterwegs* dept.
Am 15. September stieg ich in Mainz in den Eurocity nach Ziegelbrücke, unterwegs von Fulda nach Hause. Gerade eben hatte ich einen Starbucks gefunden, schlürfte einen Tall Cappuccino to go und wählte einen Platz auf der rechten Seite. Zwischen Freiburg und Basel quälte sich der Zug am Isteiner Klotz vorbei, ich genoss die Aussicht auf die Rheinebene im Wissen, dass mein Handy neben der unvorstellbar grossen Menge Eisen im Berg nicht funktioniert und ich völlig offline bin. Es war wohl das letzte Mal, ab Sonntag sollen die Züge durch den Katzenbergtunnel brausen.
Die neue Verbindung bringt mich schneller nach Karlsruhe, Heidelberg, Mannheim, Frankfurt, Köln, in den Ruhrpott, nach Bielefeld. Schneller zu Kunden und zu lieben Menschen. Nach Hamburg wird sie wohl nur etwas Verspätung reduzieren :-) Sie wird aber auch dafür sorgen, dass die wichtigste Verbindung von der Schweiz in den Norden stinkelangweilig wird und ich mit gutem Gewissen in Basel mein Notebook aufklappen und mich vergraben kann.
Gleichzeitig geht bei uns eine interessante Diskussion los. Der Bundesrat hat die Idee von verursachergerechten Mobilitätskosten ins Spiel gebracht. Je nach Strecke und Zeit sollen unterschiedliche Beträge eingefordert werden, sowohl im OeV als auch beim Individualverkehr. Eine interessante Idee - ich gucke auf das Display im Auto, es sagt mir, dass mein Weg zu meiner Mutter über die Landstrasse jetzt zweifrankenfünfundsiebzig kostet, über die Autobahn dreifrankenzehn. Wenn ich eine Stunde warte, muss ich vierfrankenachzig bezahlen. Nicht nur die Kosten sollen abgewälzt, sondern auch die Verkehrsflüsse reguliert werden. Für den Zug heisst das natürlich Zugbindung, je nach Zeit und Route andere Preise.
Mein erster Gedanke: Hey, wenn wir schon so ein intelligentes und manipulationssicheres Device haben, das weiss wo ich bin, kann es mir ja auch gleich Ende Monat eine Rechnung für all meine schnellen Fahrten und die überfahrenen Rotlichter schicken. Nalas Einwand, dass so etwas vom Datenschützer nicht estimiert wird, brachte mich wieder auf den Boden.
Auch im Zug würde die Bürokratie ausbrechen. Aktuell haben gefühlte 90% der Bündner, Sarganserländer und Glarner ein GA. Danke, Merci, Danke, Danke. Der Kondukteur ist in kürzester Zeit durch den Wagen. Wenn er bei jedem Ticket überprüfen muss, ob es die richtige Strecke zum richtigen Zeitpunkt abdeckt, geht er durch die Hölle. Die Idee, RFID Scanner in den Türen zu montieren und pay per use zu machen, ist schon vor Jahren gescheitert. Züge sind für solch ausgefeilte Technik der Horror, Störungen vom Strom oder Umwelteinflüsse wie der aktuelle Schnee machen die Kommunikation unzuverlässig. Ich erinnere mich gut an die beiden Kondukteure in Ziegelbrücke, die sich sehr belustigt über den Versuch unterhalten haben. Dass mich das System "vergisst", wenn ich einsteige, geht ja noch. Wenn es mich beim Aussteigen verpasst, kann die Rechnung dann doch ziemlich hoch werden...
Immerhin, das GA soll bleiben. Vielleicht doppelt so teuer wie bisher, für so Kranke wie mich aber immer noch bedeutend günstiger und angenehmer als die Fahrt im eigenen Auto.
Die Kommentare überschlagen sich selbstverständlich in den Foren. OeV Befürworter kontra Automobilisten, Abzocke kontra Kostentransparenz. Wieso kann man nicht einfach lassen wie es ist?
Dann überlege ich mir, dass die Schweiz zu meiner Schulzeit gut 6 Millionen Einwohner hatte. Mittlerweile sind es runde 8, ein immenses Wachstum. Agglomerationsgebiete wie Zürich sind explodiert, die Wege zwischen zuhause und der Arbeit gewachsen. Anstatt wie West- und Ostdeutschland riesige Silos zu bauen, ist bei uns das aufgelockerte Wohnen bestehen geblieben. Statt Gropiusstadt, Neu Perlach oder die diversen Plattenbauten sind "normale" Häuser Standard geblieben. Entsprechend lebenswert blieb das Land, soziale Brennpunkte sind selten. Dafür ist eine enorme Abhängigkeit von der Mobilität entstanden.
Wer heute arbeitslos ist, muss auch eine Stelle mit zwei Stunden Arbeitsweg akzeptieren. Ich kann bestätigen, dass es machbar ist - die letzten 18 Jahre habe ich das selbst gelebt. Es kostet soziales Leben, ist aber oft die einzige Möglichkeit da zu wohnen wo es schön ist und da zu arbeiten wo es Geld gibt.
Ich hoffe schwer, dass sich unsere Politiker über die Seiteneffekte im Klaren sind. Einen Eingriff in die Preisstruktur der Mobilität wird nachhaltig das Leben und die Wirtschaft verändern, ein interessantes Beispiel sind die 20 Jahre ZVV und S-Bahn im Grossraum Zürich. Sie haben für einen Aufschwung gesorgt, aber auch die Preise von Wohnraum in der Nähe von Bahnhöfen explodieren lassen. Dabei ist Zürich noch eine der entspannteren Städte. In Genf kommen 25% der arbeitenden Bevölkerung aus dem Ausland, ein Lugano ersäuft zwei mal pro Tag am Autoverkehr... Unser Leben ist ein grosses Mobile und das Ziehen an einem Ende verändert das ganze Bild. Ich bin in solchen Momenten froh, dass unsere Idee von Demokratie Schnellschüssen einen Riegel vorschiebt und gehe nicht davon aus, dass wir 2015 bereits ein solches Konzept in der Praxis haben werden.
Und wenn doch, dann werden die damit verbundenen Informatikprojekte interessante Jobchancen bieten. Fast wie Mehrwutsteuer, Y2K und .COM ;-)
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Re: Fahrplanwechsel
Geschrieben von P2501 (Link) am
Mittwoch, 5. Dezember 2012, 12:35
Gut 6 Millionen wäre Stand 1967. Wie alt bist du eigentlich? ;-)
Auf die ganze Schweiz gesehen ist der Bevölkerungszuwachs im Moment gar nicht so riesig. Die Situation ist etwa vergleichbar mit dem Anfang der 90er (bevor der Wirtschaftsaufschwung in eine Rezession kippte). Aber das Wachstum findet halt hauptsächlich in den Agglomerationen der Ballungszentren statt.
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Re: Fahrplanwechsel
Geschrieben von Beat Rubischon (Link) am
Mittwoch, 5. Dezember 2012, 13:03
Auf die Schnelle nichts besseres als das da entdeckt. In den 70ern - ich kam 1978 in die Schule - waren es etwas zwischen 6 und 6.5 Millionen. Ich bin alt, jeden Tag entdecke ich neue graue Haare im Bart 8-)
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Re: Fahrplanwechsel
Geschrieben von P2501 (Link) am
Mittwoch, 5. Dezember 2012, 13:19
Ständige Wohnbevölkerung 1950 - 2011 (Excel)
1978 wären das 6'285'156 Einwohner gewesen. Ein leichter Bevölkerungszuwachs nach drei Jahren Bevölkerungsrückgang. Die 70er-Krise hat die Schweiz tatsächlich vorübergehend in ein Auswanderungsland verwandelt.
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