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 Untergang eines Vorzeigeprojektes 
Beat Geschrieben von Beat Rubischon (Link) am Montag, 20. September 2010, 15:18
aus dem *linux-or-not-linux* dept.

Die Diskussionen laufen heiss: Das Vorzeigeprojekt Linux in der Verwaltung im Kanton Solothurn ist abgeblasen. Nebst den Pressemitteilung der /ch/open findet sich auch ein Artikel bei Heise.

Beinahe 10 Jahre war das Projekt die Antwort auf die Frage: Kann ich Linux auf dem Desktop einsetzen? Von daher ist das Scheitern ein grosser Verlust für die Bestrebungen, Linux den Weg auf den Firmendesktop zu ebnen.

Genauso zeigt das Projekt aber auch die grossen Knackpunkte: Wenn Outlook / Exchange fehlt und die ERP-, CRM-, und Dokumentenverwaltungsapplikationen nicht verfügbar sind, bleibt kein Weg um Windows. Ich erinnere mich gut an einen Kommentar von einem graubärtigen Mann, vielleicht 1996 oder 1997: Du brauchst kein Windows. Du braucht SAP, Winword und Exchange. Genauso sieht es auch heute noch aus.

Das "Abblasen im letzten Augenblick" wird aktuell kritisiert. Ich möchte ja nichts verschreien, aber meine Erfahrung zeigt, dass die letzten 10% eines Projektes die restlichen 90% der Zeit und Finanzen verschlingen. Was auf den ersten Blick als beinahe fertig erscheint, ist oftmals noch weit davon entfernt, wirklich brauchbar zu sein.

Dennoch will ich jetzt nicht behaupten, dass ein komplettes Abblasen eines derartigen Projektes eine gute Idee sein muss. Nachfolgeprojekte leiden oftmals am Second System Syndrome. Eine grossartige Chance hat die IT in Solothurn aber: Niemand wird behaupten, dass die Wahl von Microsoft ein Fehler darstellt. Es ist nach wie vor ein Name, für den man sich ohne Risiko entscheiden kann. Genauso wie Cisco oder Oracle.

Ich selbst habe ein gutes Jahrzehnt Linux auf dem Desktop betrieben. 1995-1999 in der damaligen Minolta, auf ausgewählten Arbeitsplätzen. Unsere Businesslösung lief auf einer AS/400, da reichte ein TN5250 Client. Mail hiess damals noch POP3, Netscape 3 war die Lösung. Kalender hatte man noch in Papierform. Und für die Dokumente verwendeten wir WordPerfect, welches bei einer geübten Anwenderin bedeutend bessere Resulate brachte als das junge Winword. Dennoch - es war nur eine Lösung für eine Minderheit. Nämlich für die Leute, die sich mehr oder weniger mit Datenerfassung auseinandersetzten. Wer Bilder bearbeitete oder Marketingstoff fabrizierte, brauchte Windows.

Eine kurze Zeit war ich im Datenbank-Consulting. Linux war ein Thema - aber nur in Form von Dual-Boot auf den Notebooks. Entwickeln unter Linux, Dokumentieren unter Windows.

Und dann natürlich meine lange Zeit an der ETH. Ganze Studentenräume unter Linux. Für die Administration der Himmel, für die Benutzer oftmals die Hölle. Nicht alle Studenten und Doktoranden sind dafür geschaffen, mittels TeX ihre Arbeiten zu setzen.

So bin ich zu der Erkenntnis gekommen, dass wir Windows auf dem Desktop einfach akzeptieren müssen. Es führt kein Weg daran vorbei - ausser man schafft SAP, Exchange / Outlook und Word beiseite. Punktuell machen MacOS und Linux durchaus Sinn - aber nur dann, wenn auch jemand da ist, der die Dinger administrieren kann. Das kann der Benutzer selbst sein, so er über diese seltene Gabe verfügt. In den meisten Fällen ist jedoch ein Admin von Nöten, der unkopliziert und nicht gegen Stundenverrechnung hilft.

Ganz anders sieht die Situation da aus, wo ich heute zuhause bin: Im High-Performance Computing ist eine Linux Monokultur. Ja, es gibt einen Microsoft Compute Cluster Server. Nur glaubt niemand an diesen, ausser das kleine Team bei Microsoft selbst. Selbst auf dem Desktop ist Linux faktisch Pflicht. Wer eine Dual-Socket large Memory Maschine unter dem Tisch hat, tut ihr Gutes, sie unter Linux zu betreiben. Die Performance ist signifikant besser. Und wie ich bei vielen Kunden beobachte: Daneben ein zweiter Rechner unter Windows bzw. eine Cytrix oder Terminal Server Session für SAP, Exchange / Outlook und Word.

Genauso im Internet Umfeld. Wer heutzutage noch der Meinung ist, mit einem Windows Server seriös Internetdienste anzubieten, hat verloren. Auch hier beinahe Linux Monokultur, vielleicht noch ein Bisschen FreeBSD.

Sieht man als alter Linuxler die Umsätze zwischen Datacenter-, HPC- und Internetumfeld, schmerzt einen der Verlust des Desktops nicht mehr sonderlich. Linux dominiert mittlerweile klar. Nicht da, wo jeder es sieht. Aber da, wo jeder hinsurft. Oder da, wo die Produkte und Technologien der Zukunft entwickelt werden.

Vielleicht sollten wir uns einfach an dem freuen, was "wir" erreicht haben, anstatt das zu beweinen, was verloren ging?

Permalink

Das Kleingedruckte: Der Besitzer der folgenden Kommentare ist wer immer sie eingeschickt hat. Wir sind in keiner Weise für sie verantwortlich.

  • christof@buergi.lugs.ch Re: Untergang eines Vorzeigeprojektes
    Geschrieben von P2501 (Link) am Dienstag, 21. September 2010, 13:48

    Nicht zu vergessen der Embedded Bereich, wo Linux stark vertreten ist.

    Was Server und Desktop betrifft, so kann ich die Situation aus meiner Erfahrung bestätigen. Desktops sind fast immer Windows oder MacOSX. Server sind zunehmend Linux. Sogar CIFS und ActiveDirectory wird oftmals über Linux/Samba serviert. Nur der MAPI (Exchange) Server ist fast immer eine Windows Maschine.

  • spam@remove.me.scnr.ch Re: Untergang eines Vorzeigeprojektes
    Geschrieben von iprigger am Sonntag, 26. September 2010, 14:07

    ... Full Ack!

    Die einzige Alternative für Windows ist derzeit Mac OS X. Zwar auch mit Einschränkungen (ich weiss, warum das Wort "rage" in Entourage drin ist...) - aber es tut.

    Ich bin vor vier Jahren von Linux auf dem Desktop zu OS X gewechselt. Warum zu OS X und nicht Windows? Mehrere Gründe:

    1. Ich besitze das seltene Talent, ein Windows innerhalb kürzester Zeit zu zerlegen. Ich hab' keine Lust, mich um das System selbst auch noch kümmern zu müssen (zumindest nicht mehr als notwendig) - das Teil muss einfach funktionieren.

    2. Weil ich keinen Bock habe, mit Windows zu arbeiten (z.B. die ganzen Serial-Console-Lösungen sind einfach nur halbgar).

    3. Ich brauch' X11.

    4. Ich brauch diverse Tools, welche es unter Windows nicht gibt.

    5. Ich brauch' nen Compiler.

    6. Perl.

    7. Ich betreue mehrere Kunden. Zum Teil per Remote. Jeder Kunde hat wieder ein anderes VPN und damit ein anderes VPN-Tool. Kein Bock sowas auf Win zu machen.

    8. Batterielaufzeit bei Win-Laptops: Entweder ich habe Rechenleistung (und <3h Batterielaufzeit) oder einen "Nettop" (und keine Rechenleistung).

    9. Weil unter OS X Microsoft Office läuft und ich nicht jedes Mal die Windows VM booten darf, wenn ich Office brauchen muss.

    Leider ist - bis auf Nischenlösungen - im Office-Umfeld keine echte Alternative zu Windows/Office/Exchange vorhanden. Zumindest keine, welche das Gros der Benutzer zu akzeptieren bereit ist. Leider.
    OpenOffice / StarOffice ist zwar nicht schlecht, aber es kommt derzeit noch nicht an Winword & Co. ran. Vorallem wenn man Dokumente mit der Windows-Welt tauschen darf / muss ist's übel.

    Nächstes Problemfeld: Collaboration.
    Es gibt diverse wirklich gute, freie Lösungen für Collaboration. Hier kommts aber extrem drauf an, dass der Admin / Integrator einen guten Job macht.
    Ich habe mehrere derartige Projekte begleitet... und ehrlich gesagt: Es ist die Hölle.

    Es werden zig Probleme erstmal unter den Teppich gekehrt... diese Probleme wachsen dann schön brav und fliegen den Leuten spätestens ein Jahr nach Betriebsaufnahme erstmal richtig heftig um die Ohren.

    Auch Exchange hat seine Probleme, ganz klar. Technisch gesehen gibt's massiv bessere Lösungen.

    Immerhin: Mit Exchange 2010 hat Micro$oft endlich aufgehört, nur den IE wirklich zu unterstützen. Die sind manchmal doch lernfähig...

    Sun Microsystems hat immer (wieder) krampfhaft versucht, auf den Desktop zu kommen, haben zig eigene Lösungen gebaut...

    Resultat: Sie sind von Oracle übernommen worden - und ihre ganzen Collaboration-Lösungen werden mehr oder weniger eingestampft.

    Gruss!