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 The Reader 
Beat Geschrieben von Beat Rubischon (Link) am Montag, 4. Mai 2009, 12:01
aus dem *schwere-kost* dept.

Unlängst wandelte ich durch Metzingen und guckte mir im Kino die aktuellen Filme an - The Reader klang interessant, wurde jedoch an diesem Abend in einem anderen Kino aufgeführt. So kam es am Samstagabend zu einem geplanten Spontanbesuch im Abaton in Zürich.

Wie schon bei meinem letzten Kinobesuch war ich alleine unterwegs - keine schlechte Idee, ich hätte ein schlechtes Gewissen, jemanden zu solch schwerer Kost mitzunehmen :-) Immerhin meinte die Verkäuferin, die meinen Supercard-Bonuspunkte-Kinogutschein in ein Ticket verwandelte, es sei ein schöner Film. Und ich musste ihr recht geben.

Vermutlich war ich so ziemlich der einzige im Saal, der die Geschichte von Michael und Hanna nicht in der Schule lesen musste. Ueberaus viele Deutsche, alle eher jünger, guckten zusammen mit mir den Film. In der ersten Hälfte wurde viel gelacht - wer fühlte sich durch die zaghaften Begegnungen zwischen der erfahrenen Hanna und dem jungen Michael nicht an die eigenen sexuellen Erfahrungen erinnert? Der zweite Teil war dann eher ruhig, am Schluss blieben alle im Nachspann erst einmal sitzen. Ich war einer der ersten, die aufstehen mussten - schliesslich musste ich noch den Zug erwischen, sonst wäre ich nicht mehr nach Hause gekommen.

Der Film zeichnet wunderschöne Bilder, liebevoll entstehen die 50er und 60er Jahre auf der Leinwand. Die Schauspieler erzählen oft nonverbal einen Teil ihrer Geschichte, ihrer Lust, Aengste und Abneigungen. Doch der wirkliche Film entsteht im Kopf des Zuschauers. Der Film selbst beantwortet keine Fragen - jeder Zuschauer ist dafür verantwortlich. Jeder muss sich selbst die Fragen nach Verantwortung und Schuld beantworten. Und es gibt keine einfachen Antworten - die Wahrheit, die wir oft als gegeben betrachten, muss so nicht sein, wie sie uns vermittelt wird. Sie ist gemacht, Schuld wird gerne auf Einzelne delegiert, um die Masse überhaupt weiterleben zu lassen.

Der Film bricht mit einigen Regeln, gerade in Deutschland. Eine sexuelle Beziehung zwischen einer 36-jährigen und einem 15-jährigen? Eigentlich ist das Kinderpornographie. Die Nachkriegsprozesse hinterfragen? Das war für Jahrzehnte schlicht verboten und ist noch heute verpönt. Der Luxus eines Opfers verglichen mit der Armut einer Täterin? Direkt ausgesprochen wäre das antisemitisch. Aber die Bilder entstehen primär im Kopf und nicht auf der Leinwand. Ein Glück - der Film dürfte sonst nicht in die Kinos.

Ich war froh, einen langen Heimweg vor mir zu haben und die Geschichte verdauen zu können. Das Buch werde ich mir bestimmt besorgen - auch wenn ich froh bin, solches nicht als Pflichtlektüre lesen zu müssen.

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