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 Fragwürdiger Journalismus zum Thema Polyamory 
Polyamory Geschrieben von Priska Rubischon (Link) am Mittwoch, 31. Mai 2006, 17:31
aus dem man-liest-nur-was-man-lesen-will dept.

Dass Journalisten nicht immer sehr gut recherchieren, geschweige denn objektiv schreiben, ist allgemein hin bekannt. Die Neue Luzerner Zeitung hat nun aber mal wieder einen Artikel drin, der mich tief betroffen macht.

Dass für monogame Menschen polyamory ein etwas befremdendes Thema ist versteh ich ja. Aber dass ein Journalist einfach ein Artikel schreiben darf, der weder fundiert noch recherchiert ist, finde ich sehr schade.

Im Artikel (leider nicht online verfügbar) schreibt Mathias Haehl (übrigens auch Blick-Redaktor) über das Buch "Ein Frühstück zu dritt". Kaum mit lesen begonnen stolperte ich schon über einen kapitalen Fehler. Der Autor schreibt: "Doch es gibt Menschen, welche Polygamie offen leben." Ein Artikel, der sowas enthält, soll man ernst nehmen? Polygamie ist seit langem verboten und kann daher weder offen noch geheim gelebt werden. Wer mehr als eine Ehe eingeht, wird von Amtes wegen von der zweiten (und weiteren) Ehe geschieden, bzw. diese Ehen werden für nichtig erklärt. Wie soll man da bitteschön Polygamie offen leben? Der informierte Leser weiss natürlich, dass der Autor polyamory meinte. Aber was ist mit den vielen Innerschweizer Leser, die diese Lebensweise noch nicht kennen?

Im Artikel nimmt er aus dem Buch "Ein Frühstück zu dritt" genau die Sätze raus, die gewisse Problematiken der Mehrfachbeziehung ansprechen. Selbstverständlich ist auch eine polyamore Beziehung nicht nur Friede, Freude, Eierkuchen. Wie auch. Aber anstatt das Buch zu lesen und richtig zu interpretieren, nimmt er das raus, was "gegen" polyamore Lebensweise spricht. Dabei stand im Buch wesentlich mehr darüber, wie lohnend diese Lebensweise sein kann.

Er schreibt weiter: "Zudem: Eins, zwei, drei im Sauseschritt, alle Kinder müssen mit." In meinen Augen will er damit aussagen, dass polyamore Lebensweise nichts für Menschen mit Kindern ist. Dabei ist gerade diese Lebensform eher gewinnbringend. Zudem gibt es schon in der monogamen Welt eine ähnliche Lebensform für Kinder - Patchworkfamilien nennt man diese. Eltern die sich trennten und wieder neu verheiratet sind bilden ein ähnliches Netzwerk für die Kinder, wie das polyamore Menschen tun.

Haehl meint auch, dass die Romantik auf der Strecke bleibe. Ein Urteil, das wohl kein polyamorer Mensch teilen kann. Im Gegenteil, dank den Schmetterlingen im Bauch, die man wieder ohne schlechtes Gewissen spüren darf, kommt Romantik erst wieder so richtig in Schwung.

Dass der Autor polyamores Leben mit Seitensprüngen vergleicht, zeugt eher davon, dass er sich nicht wirklich mit der Materie auseinander gesetzt hat. So bringt er dann auch gleich Männerfantasie ins Spiel, wo man "Aufstehen mit A, zu Mittag essen mit B, dann auf einen Apero mit C. Die Nacht verbringt mann dann mit D." lebt. Das kann vielleicht sogar bei einem polyamoren Mensch vorkommen. Ist aber kaum die Norm. Und sogleich unterstellt er mit dieser Lebensweise, die vielleicht ja A, B, C und D auch leben, dass es gesundheitsgefährdend sein könnte. Was daran ungesünder sein soll (in polykreisen kennt man safer sex und man spricht ja eben offen über die Beziehungen und wie man sie begeht), als beim monogam-üblichen Seitensprung, wo niemand so genau weiss, ob der Partnern nun mit oder ohne Gummi betrogen hat, weiss ich auch nicht.

Ein Sexualwissenschaftler der Uni Hamburg stellt dann auch fest: "... Für den Partner, der die Zurücksetzung und Kränkung aushalten muss. Für die dritte Person, die oft an Wochenenden oder in den Ferien allein bleibt. Und auch für den beidseitig Liebenden, der beide Seiten verletzt, indem er «beiden etwas vorenthält.»" Triefend von Vorurteilen, nie selber erlebt, dass werder der Partner gekränkt oder zurückgesetzt wird, noch dass man alleine zuhause sein muss, geschweige denn, dass man einem Partner etwas vorenthält. Aber wie sollten diese Menschen auch wissen, wie polyamore Menschen wirklich fühlen, wenn sie selber nur monogam denken?

Zu allem Elend vergleicht der Journalist auch noch das Buch mit der amerikanischen Serie "Big Love". Wie kann man bloss eine am Schreibtisch entstandene Serie (vermutlich von monogamen Menschen, die noch nie auch nur ein bisschen polyamores Leben geschnuppert haben) mit einem Buch vergleichen, in dem Menschen, die diese Lebensweise verinnerlicht haben, oder daran sind, diese für sich umzusetzen, vergleichen?

Als Tüpfchen aufs i meint er dann noch "Und ein zusätzlicher Trost für uns alle, die wir in einer vermeintlich langweiligen Monogamie dahinleben: Dem Big Protzer aus «Big Love» droht ein Burn-out-Syndrom." Wer hat je behauptet, dass die Monogamie langweilig wäre? Polyamore Menschen würden sowas hoffentlich nie tun. Sondern akzeptieren diese Lebensform als eine, die für viele Menschen die richtige ist. Aber polyamore Menschen werden von solchen Journalisten herabgesetzt, als ob ihre Lebensweise nicht funktionieren könnte.

Schade dass Herr Haehl es verpasst hat, einen fundierten Artikel zu schreiben, der die erzkatholische Innerschweiz etwas zum Nachdenken angeregt hätte. Stattdessen hat er einfach die Vorurteile bestärkt.

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Das Kleingedruckte: Der Besitzer der folgenden Kommentare ist wer immer sie eingeschickt hat. Wir sind in keiner Weise für sie verantwortlich.

  • blog@thildkroete.de Re: Fragwürdiger Journalismus zum Thema Polyamory
    Geschrieben von Thilde (Link) am Donnerstag, 1. Juni 2006, 11:24

    Na, wenn das nicht Anlass für einen Leserbrief ist? Du kannst ja 90% des Blogartikels weiterverwenden :-)

    • priska@0x1b.ch Re: Fragwürdiger Journalismus zum Thema Polyamory
      Geschrieben von Priska Rubischon (Link) am Donnerstag, 1. Juni 2006, 12:18

      Ich wollte es erst als Leserbrief schreiben und senden. Aber Beat riet mir davon ab. Zeitungen haben die Unart Leserbriefe zu kuerzen und sie wuerden es garantiert so hinbiegen, dass was ganz anderes steht, als ich geschrieben habe.

      Daher zog ich es vor, den Leserbrief als Blog zu tippen. Kann damit auch gleich alles schreiben was ich sagen will, ohne Angst, dass was gekuerzt wird. Blogs sind eine gute Alternative zu Leserbriefen, vorallem kann einem niemand was im Mund rumdrehen :)



  • forum1@amitie.de Re: Fragwürdiger Journalismus zum Thema Polyamory
    Geschrieben von bt (Link) am Donnerstag, 1. Juni 2006, 16:56

    Wichtig ist, den geneigten Leser nicht zu sehr zu vergrätzen.

    Am Ende darf bei ihm nicht das Gefühl aufkommen, in seinem Leben etwas grundsätzlich falsch gemacht zu haben. Und die jahrzehntelang gehegte Beziehungsphilosphie zu hinterfragen, sollte sich erst recht keiner wagen, der von der Auflage lebt.

    Es geht den Schreibern doch nicht um Aufklärung im weitesten Sinn oder gar Informationen. Es geht darum einen Marktsegment abzudecken. Bei dem von Dir angesprochenen Thema sind mir die klassischen Infokanäle richtig unheimlich und fremd geworden. Zum Glück gibt jetzt ja es das Netz :-)